Tobin, Keith, Michael, Vanessa (6'10) - 04.10.2015

Vor dem Konzert im Essener Anyway ergab sich die Möglichkeit, ein Interview mit 6'10 zu führen. In entspannter Atmosphäre ergab sich ein schönes Gespräch über Touren in Deutschland, den Vorteile und Probleme eines offenen Bandkonzepts, sowie die Probleme in Tobins Vergangenheit, die den weg der Band so stark bestimmt haben.

Jöran: Okay, wie war die Tour bisher? Ihr seid ja vor ungefähr zwei Wochen gestartet?

Tobin: Es war bisher wirklich sehr gut. Wir haben eine Menge verschiedene Shows gespielt, die sehr gut waren. Es ist unsere erste Tour hier in Europa und wir wussten nicht, was uns erwarten würde, aber es ist überraschenderweise sehr, sehr gut bisher. Ne Menge Show, ne Menge Leute, die kommen um uns zu sehen. Wir spielen vor Menschen, die anders sind, als die, vor denen ich bisher gespielt habe. Es ist, im Gegensatz zu Punkrock, eine ganz andere Sache vor Menschen unterschiedlichen Alters zu spielen.

Jöran: Ihr habt bisher in einigen kleineren Städten gespielt, aber auch in Großstädten, wie Wien oder Hamburg? Was gefällt euch da besser? Falls es überhaupt einen Unterschied macht?

Michael: Ich denke, es ist schon cool die Unterschiede zwischen den Städten zu sehen. Die kleineren Shows machen eine Menge Spaß, weil da die Leute auf der Community hinkommen und richtig in der Musik drin sind. In größeren Städten hast du dann eben ein ganz anderes Publikum. Mir gefällt beides sehr gut.

Tobin: Ich denke, die kleineren Städte bekommen wesentlich weniger Shows, weshalb sie aufgeregter sind, wenn man da spielt. Das ist immer ne Menge Spaß, da größere Städte ja immer jede Menge Shows bekommen. Aber jede Show war eine Überraschung bisher.

Jöran: Ihr habt auf der gesamten Tour auch keine Pause?

Tobin: Flatfoot hat einen Tag Pause, aber 6’10 nicht. Wir sind komplett ausgebucht.

Jöran: Wo Du gerade Flatfoot 56 ansprichst. Mit denen spielt ihr ja ab Freitag zusammen. Was bedeutet es für Dich in der Lage zu sein mit beiden Bands gleichzeitig auf Tour zu gehen?

Tobin: Es bedeutet auf jeden Fall einen sehr müden Sänger (lacht). Die Idee dahinter war eigentlich, da 6’10 eine neue Band ist und wir mit Flatfoot schon öfter hier gespielt haben, dass wir eine Art Unterstützung haben. Außerdem haben wir einige sehr nette Leute hier in Deutschland, die für 6’10 arbeiten und die haben vorgeschlagen, eine Art Promotion zu machen, die auch Flatfoot hilft. Daher haben wir die Split rausgebracht und promoten das auf der Tour.

Jöran: Und was machst Du, um auf der Tour dann gesund zu bleiben?

(Lachen)

Tobin: Das klappt bisher nicht so gut. Wir sind ja alle ziemlich krank.

Michael: Morgens Orangensaft und ne Menge Tee.

Tobin: Ja, richtig…

Vanessa: Was wir aber schon beobachtet haben ist, dass das durchschnittliche deutsche Essen wesentlich gesünder ist, als in den USA. Also zumindest da sieht es besser aus.

Jöran: Die Split von der Du gesprochen hast ist eine reine Europa-Veröffentlichung, oder?

Tobin: Es gibt eine limitierte Auflage in den USA, die man übers Netz bekommen kann. Einer meiner Freunde hatte sein Exemplar auch schon, bevor wir rüber gekommen sind in der Post. Das war schon cool. Der größte Teil wird aber hier verkauft, da es über Flix Records erscheint.

Jöran: Wie habt ihr entschieden, was auf die Platte kommt? Es gibt ja vier Songs von Flatfoot 56 und drei von 6’10, obwohl im Booklet nur sechs Songs stehen?

Tobin: Ja, da wurde aus Versehen ein vierter Song aufgespielt. Im Grunde sind es ein paar Songs, die Flatfoot noch nicht veröffentlicht hatte, sowie ein paar Songs von uns, darunter ein Flatfoot-Cover. Ein paar Fun-Songs eben. Flatfoot hat jetzt auch seit ein paar Jahren nichts veröffentlicht, daher mussten wir was raus bringen, weshalb wir einige B-Seiten genommen haben.

Jöran: Ihr werdet jetzt insgesamt über einen Monat auf Tour sein. Was bedeutet das für euch? So lange unterwegs zu sein?

Keith: Hm, es ist eigentlich ganz schön. Eine der härtesten Sachen für Musiker ist es, seine Termine abzustimmen. Es ist eine erfrischende Zeit auf Tour zu sein, zumindest für mich. Natürlich vermisst man die Familie zu Hause, aber es ist großartig, dass wir in der Lage waren, das alles auf die Beine zu stellen. Wir nehmen jetzt alle Erfahrungen in uns auf, die wir bekommen können.

Tobin: Natürlich ist es nicht so einfach mit der Familie. Michael hat seine Frau zu Hause und seinen kleinen Sohn.

Michael: Ja, ich habe einen fünf Monate alten Sohn, den ich vermisse. Aber auf der anderen Seite ist es natürlich super, hier zu sein.

Tobin: Seine Frau hat das auch immer unterstützt und gesagt, er solle bloß fahren.

Jöran: Du, Tobin, hast ja mal gesagt, dass 6’10 ist mehr ein offenes Projekt, was die Mitglieder angeht. Seid ihr vier jetzt trotzdem feste Mitglieder?

Tobin: Wir haben einen Kern von Musikern, der Teil der Band ist. Einer unserer Musiker konnte auch wegen seines Jobs leider nicht mit nach Deutschland kommen. Je älter man wird, desto wichtiger und zeitintensiver wird dein Job. Die Idee war, die Band zu erweitern oder zu verkleinern, je nachdem, wie die Zeit da ist. Einige von uns sind besser verfügbar, als andere. Aber wir wollten auch in der Lage sein, einen Akkordeon-Spieler oder einen Violinisten einzubauen, wenn möglich. Außerdem wollten wir in der Lage sein, immer wieder die Instrumente zu wechseln um mehr Abwechslung rein zu bringen.

Die Band ist ja als mein Nebenprojekt gestartet, bei dem ich Songs spielen wollte, die nicht zu Flatfoot passten. Da ich aber denke, dass es ziemlich langweilig ist, mir alleine eine Stunde zuzuschauen und ich diese unheimlich talentierten Freunde habe, wollte ich so viel wie möglich von ihnen mit einbauen. Wir nehmen also diese kleine Folk- / Americana- / Blugrass-Band mit eine wenig Punk und versuchen eine neue Erfahrung für unser Publikum daraus zu kreieren.

Jöran: Ich habe in einem Interview mit Dir gelesen, dass Du, bevor Du 6’10 gegründet hast, persönlich durch ziemlich harte Zeiten gegangen bist?

Tobin: Da war eine Zeit, so um 2012, als ich durch eine Menge Sachen rund um meine Ehe gegangen bin. Ich kam von einer Tour zurück und meine Familie war nicht mehr da. Es waren sehr schwierige Zeiten. Wenn du einen Standard im Leben hast, bei dem du einfach mit Flatfoot auf Tour gehen kannst - ich meine, wir waren mit Less Than Jake und Reel Big Fish unterwegs - und dann kommst du nach Hause in ein halb leeres Haus, da meine Ex-Frau einfach abgehauen ist, das ist schon wirklich schwer. Und dann in dein normales Leben zurück zu kehren und heraus zu finden, was es wert ist dafür zu kämpfen. Dazu kommt dann noch, dass du ja auch erst wieder mit den ganzen Leuten in Kontakt kommen musst. Wenn man mit für Jungs in einem Van gelebt hat, ist es nicht einfach in eine leeres, dunkel Haus zurück zu kommen, in dem es keinen Anrufbeantworter oder Tiere gibt, da man eh die ganze Zeit auf Tour ist. Das war eine sehr dunkle und herausfordernde Zeit.

Es gab damals einige sehr kraftvolle Situationen in meinem Leben in dieser Phase der Selbsterkenntnis. Ich bin dann zu dem Punkt gekommen, an dem ich gesagt habe „Hier bin ich Gott, was soll ich tun? Ich bin am Ende. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Und während dieser Phase, in der ich jeden Tag von der Arbeit kam und versucht habe mein Leben auf die Reihe zu bekommen, hab ich meine Gitarre genommen und in einem dunklen Raum in der Ecke gesessen und einfach alles raus gelassen. Damals sind viele Lyrics zu den Songs entstanden.

Im normalen Leben haben wir ja auch selten Zeit um mit Gott zu sprechen, aber wenn alles zusammenbricht, dann fängt man auf einmal an. Und so ist vieles auf diesem Album ein Resultat daraus, in diesem dunklen Raum zu sein und mein bisheriges Leben zu ändern, in dem ich 280 Konzerte im Jahr gespielt hatte und im wahrsten Sinne des Wortes vor eine Mauer gerannt war. Daher handeln viele Songs dieses Albums davon, wie ich mich durch diese Phase gearbeitet habe. Um mit den Worten eines Freundes zu sprechen, der Country spielt: „Manchmal musst Du es einfach raus lassen, um rauszufinden, wo Du selbst bist.“

Jöran: Du würdest also sagen, dass es Dir geholfen hat, die Emotionen von damals in Songs zu fassen? Also eine Art Reinigung?

Tobin: Ja, definitiv. Wenn man in solchen Zeiten Songs schreibt, geht man durch eine Art Säuberung deiner Gefühle. Ich habe in dieser Zeit mit vielen Menschen gesprochen und auch professionelle Hilfe gehabt. Ich war schon immer jemand, der sich viele Sorgen gemacht hat und war dann an einem Punkt meines Lebens, an dem ich keine Kontrolle darüber hatte, was passierte, und alleine mit meinen Sorgen in einem leeren Haus saß. Sich durch diese dunklen Erfahrungen zu kämpfen, war ein gutes Ding für mich. Ein alter Witz unter Musikern ist, dass das erste Album immer super ist und das zweite dann Schrott, weil du aufhörst dein normales Leben zu leben während du dein erstes Album promotest. Für mich war es so, dass ich immer ein Album hatte, Schulden als Band zurück bezahlen musste, immer Sorgen hatte, wie wir den neuen Van oder so finanzieren konnten. Und auf einmal musste ich komplett aufhören und herausfinden, wer ich wirklich bin. Das ist das, was damals abging. Wenn ich jetzt zurückschaue, sehe ich, welchen Wert das alles für mich hatte, damals war es aber sehr schwierig.

Jöran: Für mich ist The Humble Beginnings immer ein Album verschiedener Stimmungen. „Cannonball“ zum Beispiel hat eine andere Stimmung als das aufmunternde „Da Boss“ oder das träumerische „Backpack“ oder „The Travellers“. Seht ihr das auch so?

Tobin: Definitiv. Ich mag keine Alben, die einfach nur depressiv machen und ich bin ja auch nicht die einzige Person in der Band. Wenn die anderen ein Album machen müssten, in dem es nur um mich und meine Sorgen in einem dunklen Raum ginge, würden sie nicht mehr mit mir zusammen spielen wollen. (Lachen). Oder was denkt ihr?

Michael: Ich denke eine Menge war davon beeinflusst, durch was Du in der Zeit gegangen bist. Während des Mixens haben wir dann mit vielen Ideen gespielt, wie wir das alles zusammen bekommen. Wir hatten die Songs über einen großen Zeitraum geschrieben, daher war es schwierig, sie alle zusammen zu fügen. Wenn man genau hin hört, erzählt das Album aber ein Story, wo Tobin war und die Leiden, durch die er gegangen ist, um da raus zu kommen. Dazu hast du Songs wie „Da Boss“, die wesentlich politischer sind oder Songs über das Leben auf Tour. Es ist definitiv gut, auch Songs drauf zu haben, die nicht so dunkel sind. Also ein wenig Abwechslung zu haben. Ich denke, es ist immer wichtig ein Album zu haben, bei dem man nicht das Gefühl hat ein und denselben Song immer wieder zu hören.

Tobin: Ja, genau. Es ist auch immer wichtig, Hoffnung zu geben. Ich höre definitiv nicht gerne Zeug, das mich die ganze Zeit depressiv macht.

Jöran: Dann beendet ihr die Platte aber mit „The Travellers“ und zwar mit der Strophe von den „Two average Jones in this factory hell“. Ist das so etwas wie die Grundaussage des Albums? Dass man eben tagträumen kann, wie man will, am Ende holt einen der Alltag aber immer ein?

Tobin: Denk dran, was ich gesagt habe. Ich war gezwungen meinen regulären Job zu machen und meinen Alltag zu leben. Die Gegend, in der wir leben, ist Ort, wo Menschen hinkommen um Spaß zu haben. Es ist eine Working-Class-Stadt und definitiv nicht der Ort, an dem du abhängen willst, sondern der, an dem du ins Bett gehst, um am nächsten Tag wieder zur Arbeit zu gehen. Da leben eine Menge städtische Angestellte, was bedeutet, dass du, als Angestellter der Stadt Chicago, nicht in den Vorstädten wohnen kannst, sondern in der Stadt leben musst. Also haben sie ihren eigenen, kleinen Teil in der Stadt, in dem sie versuchen Normalität zu kreieren. Es gibt da sehr viele coole Leute, aber es ist definitiv nicht der Hafen für positive Menschen.

Jöran: Ihr habt das Album damals über Kickstarter finanziert. Würdet Ihr das empfehlen?

Tobin: Nun ja…

Keith: Ich habe das bei ein paar Freunden gesehen. Im Grunde ist Kickstarter super, wenn man eine Fanbase hat, die definitiv hinter einem steht und einen unterstützt. Ich hab einige Freunde gesehen, die bei Kickstarter ihre Ziele viel zu hoch gesetzt haben und dann eben kein Geld bekommen haben. Ich habe also gesehen, wie Leute total gefolgt sind, aber auch welche, die es super geschafft haben. Es gibt auch noch GoFundMe, was für kleinere Projekte wesentlich besser ist, da man alles Geld direkt bekommt.

Tobin: Wir hatten einige Angebote von Labels für das Album. Ich bin aber so oft über den Tisch gezogen worden, dass ich darauf keinen Bock mehr hatte und daher unseren Fans die Möglichkeit geben wollte, das Label zu sein.

Michael: Wir haben da viel drüber gesprochen, als wir die Angebote hatten. Und wir wollten als Band offen sein, wie Du ja eben gesagt hast. Als wir dann die Kickstarter-Option gesehen haben, haben wir sofort gesehen, dass das eine super Möglichkeit für uns ist, Menschen einzubinden und eine Community zu haben. Es war großartig, dass soviel Menschen mitgemacht haben und geholfen haben, das alles zu realisieren. Das war der aufregende Teil, eben kein Label zu haben, dass dir einfach sagt, was sie wollen um Geld zu machen, sondern dass du deine Familie und Freunde einbindest, die an dich glauben und dabei sein wollen.

Tobin: Was man aber nicht vergessen darf ist, dass es auch ein Full-Time-Job ist. Du musst die Packages entwerfen und umsetzen und so. Wenn Menschen Kickstarter hören, denken sie oft, dass es da Leute gibt, die dir einfach ihr Geld schenken, aber das stimmt nicht, sie kaufen Packages mit einer handgemachten Pfeife, an der ich 25 bis 30 Stunden sitze. Es ist alles super, weil es sehr persönlich ist, aber… Oder auch eine persönlichen Song zu schreiben, das ist eine Menge Arbeit.

Keith: Oder uns 5 zu koordinieren für eine Lagerfeuer-Show für 5 Fans. Persönlich, ja, aber ne Menge Arbeit.

Tobin: Ich denke, es war super fürs erste Album, ich weiß aber nicht, ob wir es noch mal machen, weil es ne Menge Arbeit ist. Es war auf jeden Fall ein guter Weg, zu zeigen, dass wir neue Musik machen wollen und die Flatfoot-Fanbase hat da super geholfen.

Jöran: Da Du schon ein neues Album ansprichst? Ist da was im Busch?

Tobin: Wir haben ungefähr 5 Songs für das neue Album geschrieben, die allerdings bisher nur in Bruchstücken vorliegen. Die letzten Monate waren sehr anstrengend. Michael ist Vater geworden, wir mussten die Tour vorbereiten. Ich weiß nicht, ob die meisten Leute verstehen, was das für eine Unternehmung ist eine Tour in Europa zu spielen. Das ist eine Menge Arbeit für uns und für die Leute, die die Tour hier organisieren. Wir haben ungefähr letzten November mit den Planungen angefangen. Und auch in Deutschland fängt die Planung dann spätestens sieben bis acht Monate vorher an.

Jöran: Ja, ihr habt die Tour ja auch schon letzten September angekündigt.

Tobin: Ja, und dann fängt man auch schon an Shows zu spielen, um die Flüge zu bezahlen, und so weiter. Aber es ist großartig bisher.

Autor: Jöran Kuschel

Konzert-Tipp der Redaktion: